„My Friend is a Raven“ – über Fehler, Reue und Vergebung

Avatar von Claudia Feiner

Ich stolperte vor kurzem zufällig über „My Friend is a Raven“ bei Steam. Wahrscheinlich war es die verstörende Bleistift-Papercut-Visualisierung, die mich gefesselt hat. Die Beschreibung versprach kurzweilige Unterhaltung für einen Abend – nicht länger – und kompakte Spiele schätze ich mittlerweile sehr. Der Titel ist kostenlos und die Entscheidung dafür somit ein Leichtes.

„My Friend is a Raven“ versetzt uns in eine nicht näher definierte Epoche des Verfalls.

Unser Protagonist ist Lutum. Er könnte aber genauso gut auch der unglückselige Gregor Samsa aus Franz Kafkas Verwandlung sein, denn Lutum ist ein anthropomorphes Insekt. Zumindest sieht es so aus, er könnte aber auch nur eine Maske tragen, wie es die Ärzte zu Zeiten der Pest taten.

Wir lernen ihn in dem Moment kennen, als er ein letztes Mal in seine geliebte, doch bereits längst verlassene Wohnung zurückkehrt. Die Angst, die Stadt könnte bald fallen, treibt ihn um. Er ist hier, um ein letztes Mal mit dem Raben zu sprechen, ihn zu überreden.

Die wenigen Räume sind düster und drückend. Das liegt zum einen am aparten Grafikstil, zum anderen am Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt. Eine Wucherpflanze hat sich der kompletten Wohnung ermächtigt und kriecht überall an den Wänden hoch. Auf dem Boden, auf dem Tisch, überall liegen Federn und aus dem Kühlschrank läuft verdorbene Flüssigkeit.

Wir bewegen uns durch die morbide gewordene Wohnung, findet einige Gegenstände. Schließlich entdeckt Lutum vor der Balkontür im Schlafzimmer einen kleinen Brief. Der enttäuschte Absender hat eine Mahnung an Lutum hinterlassen. Der Brief ist ein Hinweis, der schließlich zu einem Flashback führt. Zurück in die Situation, wie sie sich kennengelernt haben, Lutum der Mensch, der nun keiner mehr ist und er, der Rabe. Wir erfahren, welches Band Lutum mit dem Raben verbindet.

Im Hier und jetzt weiß Lutum, dass der Rabe erscheinen wird, sobald er sich ihm bei Sonnenuntergang auf dem Balkon zeigt. Also treten wir hinaus und tatsächlich, nach wenigen Augenblicken erscheint der Rabe. Sie begrüßen sich überaus förmlich, plaudern fast. Ihr Dialog ist poetisch, würdevoll und stolz. Und es wird schnell klar, dass sich Lutum das Gehör des Raben verdienen muss; denn der ist nicht gut auf Lutum zu sprechen.

Wir erfahren, dass die letzten Ereignisse Lutum einen großen Fehler bereuen lassen. Er ist hier, um Vergebung zu erhalten, und der Rabe ist das einzige Wesen, das ihm diese Vergebung gewähren kann.

Protagonist Lutum in seinem Wohnzimmer. Screenshot von "My Friend is a Raven" - Two Star Games - 2019 (Bild: Two Star Games)
Protagonist Lutum in seinem Wohnzimmer. Screenshot von „My Friend is a Raven“ – Two Star Games – 2019 (Bild: Two Star Games)

Tatsächlich ist Vergebung das zentrale Thema von „My Friend is a Raven“. Als spielende Person versuche ich herauszufinden, ob sich Lutums letzter Wunsch erfüllen lässt. Das Spiel hat insgesamt vier verschiedene Enden, wobei nur eines das Gefühl vermittelt, ein „guter“ Ausgang der Geschichte zu sein. Jeder Spieldurchgang dauert kaum länger als fünf Minuten, sodass die zentrale Frage nach spätestens einer knappen halben Stunde aufgelöst wird.

Was an dem Spiel so nachhallt, sind die Parallelen zum echten Leben, die wohl jeder von uns kennt. Die quälenden Fragen, wenn man irgendwann eine falsche Entscheidung getroffen hat; wenn man etwas aus tiefstem Herzen bereut: Was wäre gewesen, hätte ich mich damals anders entschieden? Kann ich etwas tun, um diesen Fehler zu korrigieren und wenn ja, was? Und der Schock der Ohnmacht, wenn man eben keine Absolution erhält; das Nicht-verstehen-Können (oder -Wollen?), egal was man zur Reue und Buße zu tun bereit ist.

„My Friend is a Raven“ weckt Wehmut und lässt nachdenklich zurück. Für Spiele wie dieses liebe ich das Medium.

Welche Spiele, oder welche Stellen in einem Spiel, haben dich über Reue, Versagen und Ohnmacht nachdenklich gemacht?

André EymannLennyTobiJessica Kathmann

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7 Antworten zu „„My Friend is a Raven“ – über Fehler, Reue und Vergebung“

  1. Avatar von André Eymann

    Was Kafka wohl für Spiele machen würde, wenn er könnte? Wann immer es heißt, dass Videospiele heute ein langweiliges Massenmedium geworden wären, müsste man Geschichten wie diese zücken. Persönlich liebe ich „erzählende“ Spiele die zum Nachdenken anregen; und diese dürfen auch gern kurz sein. Die Schlagkraft die ein Spiel in kurzer Zeit entwicklen kann, ist beachtlich. Denn eine gute Geschichte braucht keine 80 Stunden.

    Von Herzen lieben Dank uns „Mein Freund ist ein Rabe“ vorzustellen. Ich finde die Art wie du schreibst wunderbar „auf den Punkt“ und freue mich sehr über die Inspiration mir das Spiel selbst anzuschauen. Es ist ein gutes Beispiel für die Vielfalt, die da draußen schlummert.

    Jessica KathmannTobi
    1. Avatar von Claudia Feiner

      Danke Dir! 🙂
      Ich glaube, wir hätten großartige Spiele! Man stelle sich auch Hesse als Gamedesigner vor… oder Max Goldt 😉
      Was mich an den kleinen Indie-Produktionen reizt, ist die persönliche Motivation und Geschichte, des Entwicklungsteams, die hier noch oft maßgeblich einfließen. Bei AAA Titel, gelingt das nicht oft. Wer „That Dragon, Cancer“ gespielt hat, kann nachfühlen, was für ein bereicherndes Potential hier aufgespannt wird, das Leid einer Familie zu „erfahren“ und zu erspüren. Wenn ich mich recht erinnere, war man da auch nach wenigen Stunden „durch“ (im wahrsten Sinne des Wortes). Insofern stimme ich Dir zu: eine gute Geschichte, eine gute Erfahrung misst sich an der Intensität, nicht der Dauer 🙂

      Tobi
  2. Avatar von Tobi

    Danke für deinen Debütbeitrag, Claudia 🙂 Ja, die liebe Zeit. Ich mag auch gerne kurze Spiele, so viel angefangen und links liegen lassen 🙁

    Beim Lesen deines Textes fielen mir sofort zwei Spiele zum Thema ein. Einmal Lost Ember (mehr Walkingsimulator als Abenteuerspiel). Hier kommt man in Form eines Wolfs zurück, weil man etwas aufzuarbeiten hat, welches einem den Zutritt ins Jenseits verwehrt. Schön erzählt und hübsch verpackt, hab ich’s damals auf KS mitfinanziert, da mich der erste Trailer gepackt hatte (Musik ist ein schwerwiegendes Thema bei mir). Bereut habe ich es nicht, auch wenn mir „etwas zu viel Erzählung“ : „aktiv spielen“ Verhältnis nicht ganz ausgewogen schien.
    Das zweite Spiel (und hier rühre ich gerne wieder die Werbetrommel) ist Arise: A simple Story. Ein Jump’n’Run/Abenteuer, bei dem Liebe und Verlust ganz oben steht und die Entwickler es auch auf eindringliche Weise geschafft haben, das zu transportieren. Nicht nur einmal habe ich während des Spielens gedacht, dass unsere Zeit hier doch recht begrenzt ist und von heute auf morgen geliebte Personen (oder ich selbst) einfach nicht mehr da sein werden.
    Und dann? Habe ich alles getan, habe ich alles gesagt? Alles versucht? Was hätte ich anders machen sollen? Hätte ich was anders machen sollen? Oft gibt es den langsamen Abschied nicht, bei dem man sich noch ausquatschen kann. Arise hat mich da wirklich grübeln lassen und ich war sogar mit den Entwicklern per Mail im Austausch über eine Stelle im Spiel, die mir sehr aufgefallen ist (anderen möglicherweise nicht, das wäre interessant herauszufinden) und mich wirklich berührt hat.

    Jessica Kathmann
    1. Avatar von Claudia Feiner

      Wir haben wohl einen ähnlichen Geschmack! Tatsächlich habe ich beide Spiele bei mir auch in der Bibliothek 😀
      Die Trailermusik von Lost Ember war derart catchy, dass ich mir direkt den Song separat besorgt hatte. Beide Spiele habe ich angefangen, aber noch nicht durch. Bei Lost Ember habe ich definitiv vor, es durchzuspielen, weil ich die Geschichte recht vielversprechend finde.
      Arise hatten wir zu zweit gespielt, was dem Ganzen nochmal eine recht besondere Dynamik verleiht. Trotzdem hatte es mich zumindest in der ersten halben Stunde das Gameplay nicht so recht gepackt. Nach Deinem Kommentar juckt es mich nun doch, dem Game nochmal eine Chance zu geben. 🙂

      Tobi
      1. Avatar von Tobi

        Mach das ruhig, ich würde aber empfehlen, Arise lieber als Einzelspieler zu spielen. Nicht, dass es nicht funktioniert (haben das mal probiert), aber ich glaube, dass es im Coop einfach nicht so ankommt.
        Das beruht aber natürlich sehr auf persönlichem Geschmack und der Thematik. Und da schaffte es Arise sehr gut, mich gefangen zu nehmen. Ich fand das schon – trotz des eher lockeren Spielprinzips – recht schwer in der (komplett wortlosen, und das wurde hier meiner Meinung nach perfekt mit stilisierter Mimik und Gestik umgesetzt) Story.
        Beides tolle Spiele auf ihre Weise mit jeweils fantastischen Soundtracks (wobei ich hier aber schon wieder eher mehr zu Piccolo’s Werk tendieren würde).

        My Friend is a Raven würde ich mir auch mal ansehen (interessanter Tipp), aber ich bin kaum noch am PC und wieder ins Konsolenlager übergelaufen.

  3. Avatar von Jessica Kathmann

    Liebe Claudia,

    hihi, stimmt: Man ist in der Tat sofort an Gregor Samsa erinnert! 😀
    Vielen Dank für deinen schönen und gut lesbaren Artikel, er macht neugierig auf das Spiel und ich werde definitiv auch mal reinschauen! Ich schätze kurze Titel inzwischen auch sehr… da freue ich mich gerade insbesondere am Bundle for Racial Justice and Equality, das auch einige davon enthält. Falls du das Bundle besitzt und mit der schieren Anzahl der Titel auch überfordert bist: Bei Spielkritik schreiben wir gerade Kurzkritiken zu den im Bundle enthaltenen Spielen; viele der Spiele sind auch sehr kompakt. Für den Fall, dass du mal reinschauen magst: https://spielkritik.com/tag/bundle-for-racial-justice-and-equality/

    Zu deiner Schlussfrage: Zur Zeit spiele ich mal wieder das Rollenspiel Dungeon Siege 2 und gerade gestern habe ich eine Nebenquest durchgespielt, in der ein Mitglied meiner Gruppe (Sartan) einen vermeintlichen Verräter in seinem Bekanntenkreis umbringt. Es stellt sich aber heraus, dass dieser vermeintliche Verräter doch auf Seiten der „Guten“ war und der einzige, der wusste, wo andere der „Guten“ gefangen gehalten werden. Sartan verspricht, als Wiedergutmachung diese Gefangenen zu suchen und zu befreien. Das gelingt natürlich und es folgt ein abschließender Dialog darüber, dass Sartan nun trotzdem mit der Last, einen Unschuldigen getötet zu haben, leben muss.
    Ansonsten fällt mir spontan „Shadow of the Tomb Raider“ ein, wo Lara in einer Cutscene sehr damit kämpft, vermutlich verantwortlich zu sein für all das momentan herrschende Chaos, weil sie einen speziellen Dolch aus einem Tempel mitgenommen hat.
    Und in „Undertale“ habe ich zu spät verstanden, dass man das Spiel tatsächlich komplett im Pazifistenmodus durchspielen kann und hatte dann selbst Schuldgefühle. 😀
    … es gibt sicher noch viele weitere Spiele, aber ich mach hier einfach mal einen Punkt. 🙂

    LG,
    Jessica

    TobiAndré Eymann
    1. Avatar von Claudia Feiner

      Hallo Jessica,

      *natürlich* habe ich mir das Bundle direkt auch geholt und bin Deiner Empfehlung an anderer Stelle zu „Luna“ als aller erstes nachgekommen. Dessen Artwork und die angekündigte kurze Spieldauer haben mich prompt angesprochen. Ich kann es ebenfalls nur weiterempfehlen, vor allem weil hier auch wieder (wie an André schon geschrieben), ein sehr persönliches Thema aus dem Leben der Entwicklerin verarbeitet wird. (siehe https://twitter.com/hunicke/status/931596077773369344)

      Übrigens:
      Wem der Artstyle von „My Friend is a Raven“ gefallen hat, dem sei auch das düstere Folgewerk von Two Star Games ans Herz gelegt: „My Beautiful Paper Smile“. Der Titel ist Mitte Juni auf Steam erschienen:
      https://store.steampowered.com/app/1036700/My_Beautiful_Paper_Smile/

      Ich werde mir für den nächsten Artikel aber erst mal etwas raussuchen, dass ein wenig „bunter“ ist 😉

      Tobi