Kalte Krieger auf dem Heimcomputer

Avatar von Nele Abels

In einer der Schlüsselszenen eines der ganz großen Klassiker der Filmgeschichte sehen wir den Piloten eines strategischen B-52-Bombers auf einer Atombombe wie ein Cowboy im Rodeo ins Ziel reiten. Gerade eben hat er die Bombe noch repariert, die jetzt den endgültigen Atomkrieg und den alles vernichtenden Gegenschlag der sowjetischen Doomsday-Machine und damit das Ende der Menschheit auslösen wird.

Der Film von Stanley Kubrick Dr. Seltsam oder: wie ich lernte, die Bombe zu lieben, im englischen Original „Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb„, aus dem Jahr 1964 stieß mit seiner beißenden Satire in den Kern des eigentlich bestürzend unlustigen Zeitgeschehens, nämlich den Kalten Krieg und den Schrecken der atomaren Vernichtung, die immer und überall zuschlagen konnte, und die man nur dadurch verhindern zu können glaubte, dass sich Ost und West wie Cowboys auf der staubigen Straße vor dem Saloon gegenüberstanden, die Hand am nuklearen Colt, im Bewusstsein, dass derjenige, der zuerst zieht den Tod aller verursachen würde.

Kindheit unter dem nuklearen Damoklesschwert

Die goldenen Jahre der 8-Bit-Computer, die späten 70er und frühen 80er, fielen in die Hochphase dieses kalten Krieges. In unseren Schulfluren hingen noch die Codetafeln, die erklärten, wie sich die Sirenensignale für Fliegerangriff und ABC-Alarm anhörten.

In den Nachrichten hörten wir Jugendlichen von den Salt-II Verhandlungen und der Nachrüstung und gingen vielleicht auf eine der Demos gegen die Pershing-Raketen, die in Deutschland stationiert werden sollten.

Oder wir warteten darauf, nach dem Abitur bei der Bundeswehr eingezogen zu werden, um unseren Anteil im Nato-Verteidigungsschirm zu leisten. Das war damals nicht im Hindukusch sondern in Hessen beim Fulda Gap, dem erwarteten Einfallstor der Panzertruppen des Warschauer Paktes.

Eine sowjetische Nuklearwaffe detoniert in Kansas: Der Tag danach - The Day After, 1983.
Eine sowjetische Nuklearwaffe detoniert in Kansas: Der Tag danach – The Day After, 1983.

Der Kalte Krieg wurde natürlich auf allen möglichen kulturellen Ebenen umgewälzt, auch in der Populärkultur, mit der wir als Jugendliche hauptsächlich in Berührung kamen. Wir sahen Filme wie Die rote Flut (Red Dawn, 1984), welcher die Eroberung der USA durch die UdSSR und den Widerstandskampf von jungen Freiheitskämpfern erzählt. Oder Top Gun (1986), der die Tomcat-Piloten der US-amerikanischen Marineflieger glorifiziert.

Und als frühe Computernerds natürlich zuallererst den sehr viel intelligenteren und abgeklärteren War Games (1983), in dem ein jugendlicher Hacker sich über das Modem in den Zentralcomputer des nordamerikanischen Verteidigungsnetzwerks „Norad“ einschleicht. Fast kommt es auch hier zu einem Atomkrieg, der jedoch glücklicherweise dadurch abgewendet werden kann, dass die künstliche Superintelligenz des Netzwerkes an einem Tic-Tac-Toe-Spiel erkennt, dass manche Spiele nur gewonnen werden können, indem man sie nicht spielt.

The Day after – Der Tag danach (The Day After, 1983) erschütterte uns in seiner krassen Darstellung des Sterbens in nuklear kontaminierten Kriegsgebiet.

Einfache Simulationen auf einfachen Heimcomputern

Aber das berührte uns in unserer damaligen kindlichen Leichtigkeit wenig – selbstredend spielten wir den nuklearen Schlagabtausch dem Ratschlag des Computers aus „War Games“ entgegen dennoch – und das erstaunlich früh.

Die früheste mir bekannte spielerische Umsetzung eines Atomkrieges stammt mit „ICBM“ von Paul Calter, der ein auf den 8. Januar 1975 datiertes Programm von Chris Falco von der Glen Ridge High School in New Jersey umsetzte, und das wie viele Spiele dieser Zeit als Basic-Listing aus dem Magazin abgetippt werden musste. (Best of Creative Computing 1, ed. David Ahl, 1976, p.269) Das Kürzel ICBM steht für Inter Continental Ballistic Missile und beschreibt eine große Rakete, die nukleare Sprengköpfe direkt von einem Kontinent zum nächsten schießt.

In dem Spiel geht es darum, als amerikanischer Soldat eine SAM, eine Fliegerabwehrrakete, ausreichend nahe an die herankommende Atomrakete zu steuern, um sie in die Luft zu sprengen und den Angriff zu beenden.

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Natürlich ist das nur 59 Zeilen lange Programm aus heutiger Sicht sehr primitiv und verfügt über keinerlei Grafik- oder Soundeffekte.

In einer einfachen Zeilenausgabe wird der aktuelle Abstand zwischen SAM,  ICBM und Kontrollzentrum ausgegeben und der neue Steuerkurs der Abwehrrakete abgefragt. Ist die Distanz unter 5 Meilen, wird die ICBM vernichtet und das Spiel ist gewonnen. Ist die Distanz zwischen Atomrakete und Kontrollzentrum 0, ist das Spiel verloren.

Einige Zufallsereignisse, z.B. kann sich die vermeintlich anfliegende Rakete als Verkehrsflugzeug entpuppen, sorgen für Unvorhersehbarkeit. Aufgabe des Spielers oder der Spielerin ist, aus den relativen Abstandsangaben von ICBM, Kontrollstation und SAM den Anflugvektor der Nuklearrakete und den Abfangkurs der Abwehrrakete zu ermitteln. Da die Eingaben nicht in Echtzeit erfolgen, hätte man eigentlich schön viel Zeit, mit Papier, Bleistift und Taschenrechner trigonometrisch genaue Spielzüge zu planen. Das habe ich aber nicht getan…

Ein atomarer Schlagabtausch ist doch keine große Sache…

Auch der gespielte Nuklearkrieg wurde sehr schnell zu einem Thema der noch in Kinderzimmern und Garagenbasen stationierten Spieleprogrammierer der ersten Generation.

In diesem Zusammenhang sind zwei Titel erwähnenswert, die im Sommer von 1980 von Avalon Hill in Versionen für die „Großen Drei“, Apple II, CBM Pet und TRS-80, publiziert wurden, einem etablierten Hersteller von strategischen Brettspielen. „NukeWar“ und „B-1 Nuclear Bomber“ sind beides BASIC-Programme aus einer Reihe von militärstrategischen Spielen und einer SciFi-Wirtschaftssimulation, die in diesem Jahr für jeweils $15 im Kassettenformat auf den Markt gebracht wurden.  

Bedienungsanleitung B-1- Nuclear Bomber
Das Titelblatt der Bedienungsanleitung von „B-1 Nuclear Bomber“

(Nebenbei bemerkt, die Recherchen über diese Spiele haben mich tief zurück in das Gefühl der Zeit geworfen: nicht nur, dass man überhaupt im ROM-Basic der Computer geschriebene Spiele ohne Grafik und Sound auf den Markt bringen konnte. Die Verlässlichkeit der damaligen Technik ist dadurch dokumentiert, dass der buchstäblich erste Satz der Anleitung die Herstellergarantie ist, defekte Datenträger umzutauschen, gefolgt vom Ratschlag, sich eine Sicherheitskopie der Originalkassette zu machen! Das waren noch andere Zeiten. Aber zurück zum Thema…)

Das erste Spiel mit dem Thema des Nuklearkriegs war das genau so betitelte Nukewar. Hierbei handelt es sich um eine Erweiterung des Spielprinzips von „Schiffe versenken“ – der menschliche Spieler und sein digitaler Gegenpart feuern in ein acht mal acht Felder großes Raster, in dem Städte, Flugplätze und Raketenabschussbasen etc. versteckt sind.

Über den Verlauf der Spieljahre, die in die reale Zeit des Kalten Krieges ab 1955 angelegt sind, rüsten die beiden Seiten auf und haben die Gelegenheit, Spione die gegnerischen Stellungen auskundschaften zu lassen. Unweigerlich bricht ein Atomkrieg aus, ohne dass Ursachen dafür genannt werden. Nun beschießen sich die beiden Seiten nach dem Prinzip von „Schiffe versenken“, wobei sie noch taktische Einflussmöglichkeiten haben.

Regelmäßig klingelt das Rote Telefon für Verhandlungen, doch es ist nicht gewiss, dass die Verhandlungen Erfolg haben. Das Spiel endet, wenn alle Nuklearwaffen aufgebraucht sind, der Gewinner wird anhand der Opferzahlen und der internationalen Reputation ermittelt. (Link zum Gameplay auf einem Apple II)

Im Cockpit eines Bombers – der simulierte Angriff auf die UdSSR

„B-1 Nuclear Bomber“ ist ebenfalls ein BASIC-Programm mit Textaus- und -eingabe, aber deutlich interessanter als Nukewar. Hier übernimmt die SpielerIn die Rolle des Kommandanten einer B-1 Lancer, eines im Erscheinungsjahr des Spiels hochmodernen strategischen Überschallbombers, der auch heute noch bei den amerikanischen Luftstreitkräften im Einsatz ist.

Sie steuert nicht direkt  den Bomber, das Spiel ist kein Flugsimulator, sondern gibt Kommandos an die Besatzungsmitglieder, um das Flugzeug möglichst unbeschädigt ins Zielgebiet zu leiten und dort die Nuklearwaffe abzuwerfen. Natürlich soll hinterher auch der unbeschadete Rückflug des Bombers zur Luftwaffenstation in Thule geschafft werden!

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Der Kommandant  hat dafür Zugriff auf die verschiedenen Stationen und Möglichkeiten der fliegenden Kriegsmaschine. Er kann den Navigator Kurse zu Haupt- und Nebenzielen plotten lassen, dem Piloten Flughöhe und Kurs anweisen, Radarmessungen und Statusberichte einholen und ggf. Abwehrmaßnahmen einleiten: Ausweichmanöver, elektronische Maßnahmen oder Phoenix-Raketen gegen angreifende Mig-Jagdflugzeuge.

Während des Fluges müssen ständig Entscheidungen über Angriffskurse und Treibstoffvorräte getroffen werden. Sollte der Bomber vom sowjetischen Radar erfasst werden, starten Jagdflugzeuge oder Fliegerabwehrrakten – der Kommandant entscheidet, ob Ausweichmanöver geflogen, elektronische Gegenmaßnahmen eingeleitet oder Raketen zur Abwehr gestartet werden. Welcher Befehl die besten Erfolgschancen hat, hängt von der jeweiligen Spielsituation ab.

Das Spielgeschehen erinnert stark an die Szenen von Dr. Strangelove, die das technisierte Kampfgeschehen an Bord eines Bombers eindringlich schildern und es würde mich nicht wundern, wenn der Programmierer sich von dem Film inspirieren lassen hätte. (Ausschnitte des Films auf Youtube)

Wenn schließlich das Ziel erreicht wird, muss der zu Beginn des Spiels bekannt gegebene Nuklearcode eigegeben werden (hat man den vergessen, kann man leider nicht gewinnen) und die Bombe zur Explosion gebracht werden, wobei ausreichend Abstand zur Detonation zu halten ist. Der gefahrenvolle Rückweg zur Basis nach Thule muss noch gemacht werden und dann folgt die Auswertung: ist das Ziel zerstört, ja oder nein?

Waren die Entscheidungen des Kommandanten unklug, kann es sein, dass die Crew Strahlenschäden mit nach Hause gebracht hat, an denen sie nachträglich stirbt. Eine Vernichtung Thules ist nicht vorgesehen, wie ein Blick in den Programmcode zeigt.

Die möglichen Spielausgänge im Basiccode von "B-1 Nuclear Bomber"
Die möglichen Spielausgänge im Basiccode von „B-1 Nuclear Bomber“

„Nukewar“ und „B-1 Nuclear Bomber“ ist gemein, dass der Atomkrieg prinzipiell gewinnbar ist. Und selbst im Fall der Niederlage hält sich der Schaden in Grenzen. Die Heimatbasis Thule und damit implizit auch das Heimatland USA bleiben als Rückkehrort immer erhalten, auch, wenn der Bomber im Einsatz zerstört werden sollte. Und am Ende von „Nukewar“ bleibt von beiden verfeindeten Ländern und der Welt ausreichend viel übrig, dass eine Siegerwertung vorgenommen werden kann.

Selbst, wenn das Spiel verloren geht, besteht immer noch die Möglichkeit, sich für eine nächste Runde in den Pilotensessel oder an den strategischen Planungstisch zu setzen, Hier gilt die Lehre nicht, die der Supercomputer WOPR aus Wargames am Ende einer langen Reihe simulierter nuklearer Auseinandersetzungen zieht: „A strange game. The only winning move is not to play“. (Filmausschnitt auf YouTube) Und anders als WOPR hätten wir damals nicht lieber Schach gespielt, denn wir wollten Action.

Und die kam dann auch bald auf den Markt.

Die künstliche Intelligenz erkennt die Sinnlosigkeit des Atomkrieges (Wargames, 1983)
Die künstliche Intelligenz erkennt die Sinnlosigkeit des Atomkrieges (Wargames, 1983)

Ein Abwehrschild im Weltraum

In der ersten Hälfte der 80er Jahre kam es im Westen zu einem Richtungswechsel, wie der Gefahr eines Atomkrieges zu begegnen sei. Die bisherige strategische Doktrin war mehr oder weniger, dass ein direkter Krieg zwischen den Blöcken dadurch verhindert wurde, dass jeder Erstschlag einer Seite zu einer allumfassenden Reaktion der Gegenseite und im Endeffekt zu gegenseitigen Vernichtung der Kontrahenten führen würde.

Durch die „mutually guaranteed destruction“ sollte die geostrategische Lage zwischen den Blöcken stabilisiert werden. 1981 wurde dann als 40. Präsident der USA der Republikaner Ronald Reagan gewählt, ein erklärter Gegner dieser Politik, die er als „suicide pact“, als einen Selbstmordpakt bezeichnete.

Reagan wollte die USA im Bereich der Nuklearstrategie wieder handlungsfähig machen und forcierte deshalb ein Programm zur möglichst vollständigen Abwehr von nuklearen Interkontinentalraketen, den Raketenschild der Strategic Defense Initiative, SDI, in der Öffentlichkeit schon bald als „Star Wars“ bezeichnet.

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Schon nach dem Ende des 2. Weltkrieges unter dem Eindruck der V2-Angriffe auf England war es zu Überlegungen gekommen, wie man der Gefahr durch diese neue Art von Waffen begegnen konnte. In den 60ern kam es auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs zu Versuchen mit bodengestützten Abwehrraketen, eine Idee die sich als zunehmend impraktikabel und vor allem auch als politisch gefährlich herausstellte; bringt man den Gegner nicht in Versuchung vorzeitig zuzuschlagen, wenn er die Gefahr sieht, dass sein Angriff in Kürze sinnlos ist?

Die Welt dieser Zeit war aber eine Welt der Ingenieure und entsprechend technikverliebt. In den 70ern, im Zuge der Weltraumerforschung, verbreitete sich die Idee, dass man heran fliegende Raketen auch von Satelliten aus mit Lasern bekämpfen könne.

Die großen technischen und finanziellen Schwierigkeiten dieses Konzepts wurden rasch klar, die Bereitstellung der Raketenabwehr würde immer deutlich teurer, komplizierter und unzuverlässiger sein als die Massenproduktion vergleichsweise billiger Interkontinentalraketen. Dabei war eine zuverlässige Vernichtung der anfliegenden Angriffswellen niemals garantiert.  

Ronald Reagan und seine Berater: R2-D2, C3PO und E.T. Politische Karikatur von 1983.
Ronald Reagan und seine Berater: R2-D2, C3PO und E.T. Politische Karikatur von 1983.

Die Bezeichnung „Star Wars“, die sich sehr schnell als Bezeichnung für den strategischen Raketenschild etablierte, drückte das Urteil der Mehrheit der Gesellschaft aus; die ganze Idee war Science Fiction.

Dies hinderte den technikverliebten und von der Realität öfters abgekoppelten Präsidenten Reagan allerdings nicht daran, am 23. März 1983 den Start des SDI-Programms zu verkünden, das allerdings langfristig niemals erfolgreich oder ein relevanter Teil der friedenssichernden Maßnahmen zwischen den Blöcken war.

Raketenabschuss frei an Automat und Computer!

In der Welt der Arcadespiele realisiert  wurde die Idee von SDI schon lange vor dem Program Ronald Reagans. 1980 eroberte das Arcade-Spiel Missile Command von Atari den Markt. Grafische Echtzeitspiele waren in dieser Zeit als Medium immer relevanter und beliebter geworden und die Umsetzung der dynamischen Raketenabwehr in grafisch ansprechender Visualisierung lag nahe.

Der Arcade-Automat von Atari schlug ein wie eine Bombe, wenn das Wortspiel gestattet ist, und inspirierte und inspiriert bis auf den heutigen Tag wahrscheinlich hunderte von Versionen, Adaptionen und Weitereintwicklungen auf unterschiedlichsten Plattformen – bis hin zu einem Minigame namens Atomic Command für den Pipboy in Fallout 4!

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Ein Grund für den durchschlagenden Erfolg von „Missile Command“ ist das schlichte, aber packende Spielprinzip. Es gibt nicht viel zu verstehen – ein Fadenkreuz wird auf einen Punkt in der Luft gerichtet, den voraussichtlich eine oder besser noch mehrere Nuklearraketen kreuzen werden. Durch Knopfdruck wird von einer der drei verfügbaren Raketenbasen eine Abwehrrakete abgeschossen, die mit ihrer Explosion hoffentlich den Angreifer vernichtet, bevor er eine der sechs Heimatstädte trifft – oder, schlimmer noch, eine der drei Raketenbasen.

Die Vorräte an Abwehrraketen sind nämlich begrenzt und ein Treffer auf die Basis zerstört alle dort gelagerte Munition. Von der SpielerIn ist höchste Aufmerksamkeit verlangt, sie muss ständig im Blick haben, wo die anfliegenden Nuklearwaffen einschlagen und welche Ziele und Abschussbasen die klügste Wahl sind. Noch attraktiver wurde das Spiel dadurch, dass eine neue Art von Steuerung eingesetzt wurde, der Trackball, der eine völlig intuitive und präzise Kontrolle des Spielgeschehens ermöglichte. (Guido Frank hat auf Videospielgeschichten einen ausführlicheren Artikel zu diesem Arcadeautomaten beigetragen.)

Reagans Traum – Laser Defense auf dem TRS-80

1981 erschien auf dem Computerspielmarkt das Spiel, das den technikverliebten Träumen Ronald Reagans am nächsten kam – wer weiß, vielleicht spielte er es auf einem Ausstellungscomputer in den Verkaufsräumen von Radio Shack, bevor er die Entscheidung für SDI unterzeichnete?

Auch, wenn diese Idee wohl eher unwahrscheinlich ist, zeigen sich bei „Laser Defense“, einem weitgehend unbekannten Programm, das ausschließlich für den TRS-80 verfügbar war, alle Elemente, die das Verteidigungsprogramm der USA zwei Jahre später ausmachen sollte.

Mit Lasern bewaffnete Satelliten im Orbit, die die US-Städte aus dem Weltraum vor anfliegenden Interkontinentalraketen beschützen;  sowjetische Abschussbasen im „Reich des Bösen“ (O-Ton Ronald Reagan), die zwischen den Angriffswellen neutralisiert werden müssen. Und regelmäßig eine russische Strahlenwaffe, die die US-Satelliten bedroht…

Anleitung der 1982er Version von "Laser Defense"
Anleitung der 1982er Version von „Laser Defense“

Das Titelbild der Anleitung von 1982 zeigt auch die Vorstellung des Spielers von „Laser Defense“. Ein schlaksiger junger Mann in T-Shirt und Jeanshose, der wohl dem typischen Computer-Freak dieser Zeit gleichen soll, fläzt sich auf einem Hocker vor einem Bildschirm, den man damals wohl riesig genannt hätte. Links, rechts, oben und unten befinden sich die Kontrollgeräte, mit denen er die Zieloptik auf die schon heranrasenden Nuklearraketen richtet. Wird er die Vereinigten Staaten retten können?

Dieses Szenario erwartet uns nach dem Ladevorgang, der auf dem TRS-80 dankenswerterweise von Diskette in wenigen Sekunden beendet ist. Zur Einstimmung in die finster bedrohliche Szenerie ertönt der viel zu schnell gespielte erste Takt aus der Toccate und Fuge in d-Moll von Johann Sebastian Bach, BWV 565, die erfahrene Computerspieler wohl auch aus Gyruss kennen.

Nachdem man den Spielmodus und den Schwierigkeitsgrad eingestellt hat, wird auf dem Bildschirm in der archaischen Klötzchendarstellung des TRS-80 die Titelseite der Anleitung sichtbar. Über dem Horizont  des Erdballs schweben die vier Verteidigungssatelliten mit drehenden Radarantennen, darunter sind die Umrisse der USA eingeblendet, inklusive einige der Großstädte an der Ost- und Westküste bzw. in den Fly-Over-States. Ist das in der Mitte der Karte Denver?  

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Wir haben allerdings keine Zeit, länger über Geographie nachzudenken, denn schon fliegen die ersten ICBMs über das Nordpolarmeer heran. Mit den Pfeiltasten schieben wir das Fadenkreuz in ihre Flugbahn und lösen mit dem Druck auf die Leertaste eine Lasersalve aus, die im Weltraum einen gigantischen Feuerball erzeugt, der alle Raketen in seinem Umkreis vernichtet. Oder zumindest stellte ich mir das als jugendlicher Spieler so vor, denn mit 128 mal 48 Pixeln in schwarz und weiß lassen sich nur begrenzt realistische Explosionen darstellen.

Wie dem auch sei, nach einigen gezielten Schüssen ist die unmittelbare Gefahr beendet und wir schalten mit „1“ auf die andere Seite der Welt. Hier zeigt sich eine skizzenhafte Karte Europas und der Sowjetunion. Wir sehen eine Unmenge von kleinen Raketenabschussbasen, auf die wir die Schüsse unserer Satelliten lenken können, um sie als Angreifer auszuschalten. Aber dafür haben wir kaum Zeit, denn schon wieder fliegt ein Strom von Raketen in Richtung USA und wir müssen kontinuierlich zwischen den beiden Bildschirmen hin- und herschalten und unsere Aufmerksamkeit zwischen Angriff und Verteidigung teilen. Sind wir zu langsam, landet eine Nuklearrakete im Ziel und eine unserer sechs Städte vergeht im Atomblitz.

Dazu kommt noch, dass unser Energievorrat begrenzt ist – jeder Laserschuss reduziert den Ladebalken am unteren Bildschirmrand. Und jetzt leitet die Sowjetunion auch noch Gegenmaßnahmen ein! Von einem Turm im Ostblock aus nimmt das „Reich des Bösen“ seinerseits unsere Satelliten unter Beschuss und jeder Treffer reduziert unsere Energie….

Irgendwann kommt es, wie es kommen muss. Obwohl wir einige Angriffswellen erfolgreich aufhalten und überlebende Städte und Restenergie auf unser Punktekonto gezählt wird, endet es auf lange Sicht genau so, wie von den Kritikern von SDI vorhergesagt. Die Satelliten können die Flut der angreifenden Raketen nicht aufhalten, auf Dauer ist alle Gegenwehr vergebens. Entweder die Energie der Satelliten ist aufgebraucht und sie werden vom Boden aus mit Lasern zerstört. Oder alle US-Städte sind vernichtet.

Wir wissen zwar nicht, wie es der UdSSR ergeht – verglüht sie im nuklearen Gegenschlag der Nato? – aber eines ist gewiss: gewinnen kann man auch diesen Krieg nicht. 

Das Ende ist immer der Tod…

Sowohl „Missile Command“ als auch „Laser Defense“  enden wie alle Arcade-Spiele dieser Zeit: das Spiel wird immer härter, die Ressourcen des Spielers an Städten und Abwehrraketen schwinden immer schneller. Irgendwann kann der Angriff nicht mehr abgewehrt werden, das Spiel ist verloren.

Damit ist erneut die Feststellung WOPRs in NORAD erfüllt – die einzig vernünftige Reaktion wäre gewesen, das Spiel nicht zu spielen und die wertvollen Markstücke zu sparen. Aber wäre uns jugendlichen Spielern diese Implikation überhaupt bewusst gewesen?

Dass man Arcadespiele überhaupt gewinnen könne, egal ob es sich um Automaten oder um Adaptionen für die Spielkonsole oder den Heimcomputer handelte, war 1980 noch völlig unbekannt. Solche Spiele endeten immer in der Niederlage – denn ihre Aufgabe sollte sein, den Spieler für einen neuen Versuch zurückzuholen. Das war mit einem siegreichen Spielende wenig vereinbar. Aber wir waren daran gewohnt.

Die einzigen gewinnbaren Spiele, die ich als Gamer der frühen Jahre kannte, waren Simulationen und Textadventures. Bei Arcade-Spielen war die ludistische, d.h. die spieltheoretische Konvention einfach, dass sie das spielerische Können der Gamerin bis an die Grenze und darüber hinaus austesteten. Und ihre Aufgabe war, diese Grenze immer weiter hinauszuschieben, was mit der Highscore dokumentiert wurde. Eine narrative Bedeutung hatte das für uns Jugendliche damals nicht. 

Die Reaktionen der Erwachsenen

In den 80ern waren die Reaktionen der erwachsenen Welt auf Videospiele noch sehr viel kritischer als das, was wir aus der jüngeren Vergangenheit an törichten Vorstellungen über vermeintliche „Killerspiele“ und ihre katastrophalen Auswirkungen auf die zarten Seelen heranwachsender Menschen gewohnt sind.

Das mag daran liegen, dass Videospiele in den 80ern tatsächlich in erster Linie von Kindern und Jugendlichen konsumiert wurden – anders als heute, wo der Altersdurchschnitt 37 Jahre beträgt und überhaupt nur ein ungefähr ein Viertel der Spieler minderjährig ist. Eine noch viel stärker verankerte Technikangst der erwachsenen Generation mochte damit zusammenhängen.

Aber vielleicht auch, dass die militärischen Auseinandersetzungen zwischen den Blöcken, der in den Beispielen oben gezeichnete Atomkrieg für unsere Eltern und Großeltern eine bedrückende Alltagsgefahr darstellte. 

„Game over“ auf der Arcadeversion von „Missile Command“, 1980

Die knalligen Farben des „Game Over“-Screens in der Arcadeversion von Missile Command ähneln frappierend einem Atomblitz, wie man ihn „The Day After“ anschauen konnte. Und wenn uns Jugendliche das damals gleichgültig gelassen hat, muss es nicht so für unsere Eltern gewesen sein.

Militärische Videospiele und -simulationen wurden und werden bis heute in politischen Zusammenhängen instrumentalisiert. Ronald Reagan lobte auf einer Rede im Jahr 1983 Arcadegames als hervorragendes Trainingsmittel für angehende Jetpiloten:

I recently learned something quite interesting about video games. Many young people have developed incredible hand, eye, and brain coordination in playing these games. The air force believes these kids will be our outstanding pilots should they fly our jets.

Ronald Reagan, 8. August 1983

In dem antimilitaristischen Klima der Bundesrepublik sah die Sache anders aus. Die Bundesprüfstelle für Jugendgefährdende Schriften hatte einen lockereren Indizierungszeigefinger, der sogar das schon damals unschuldig wirkende River Raid beschuldigte, Kinder und Jugendliche „sozialethisch zu desorientieren“. Um so härter ihr Urteil über den kriegerischen Arcadesimulator Raid over Moscow, der nur drei Jahre nach dem Erscheinen von „Laser defense“ der Zensur anheim fiel:

Die Anwendung von kriegerischer Gewalt und mithin das Töten erfährt im Spiel ‚Raid over Moscow‘ eine qualifizierte positive Bewertung. Die kriegsverherrlichende bzw. verharmlosende Tendenz dieses Computerspiels wird nicht dadurch gemildert, dass der Spieler den Kampfauftrag verfolgt, um die westliche Hemisphäre zu retten.

Die frühen Schlachten der Pixel-Pazifisten, Der Spiegel, 12.9.2011.

Aus der heutigen Perspektive eines Gamers von Mitte 50 sehe ich diese Spiele mit etwas gemischten Gefühlen.

Die ganz frühen Varianten, die ich bis hierhin dargestellt habe, sind für mich nur nostalgische Erinnerungen und vielleicht erinnere ich mich auch mit einem amüsierten Schmunzeln an besorgte LehrerInnen, die Unterrichtseinheiten über die verrohende Wirkung von „Telespielen“ abhielten. Aber als heutiger Historiker und Literaturwissenschaftler halte ich schon inne bei der Leichtfertigkeit, mit der Millionenfacher Tod und Vernichtung über die Jahre spielerisch immer wieder zelebriert wurde.

Dann wiederum erkenne ich die tragische Ironie, die von den schlicht denkenden Zensoren der Zeit nicht gesehen wurde: wenn diese Kriegsspiele eines narrativ demonstrieren, dann doch, dass Krieg und Gewalt politisch keine endgültige Lösung sein können, da sie immer in der Selbstzerstörung enden.

Und so vielschichtig die Thematik des Nuklearkrieges Eingang in heutige Spiele findet – sei es die Fallout- oder Far Cry-Reihen, sei es Call of Duty oder sei es eine grafisch aufwändige und narrativ dürre Simulation wie ICBM auf Steam; das „Gefühl“ dieser modernen Spiele ist ein anderes.

Es ist letztlich doch nicht unsere Lebensrealität, die in den modernen Spielen gespiegelt wird, aber die ich in den alten Spielen spüre.

André EymannHaraldTobi

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3 Antworten zu „Kalte Krieger auf dem Heimcomputer“

  1. Avatar von David Otto
    David Otto

    Ich musste es nur überfliegen und finde, empfinde es als sehr gut.

  2. Avatar von André Eymann

    Meine Güte Nele, was für ein Beitrag das ist. Mir geht es ähnlich wie Tobi, ich weiß gar nicht wie ich Deinen Text kommentieren soll. Denn er steckt so voller Inhalt und enthält so viele Referenzen und Querverweise, die allesamt eigene Gedanken-Exkurse verdienen würden.

    Aufgrund Deiner Worte habe ich mir neulich wieder einen Trailer von „The Day After“ angesehen und war überrascht. Überrascht davon wie intensiv und berührend die Verfilmung heute noch wirkt. Die Bilder – die Ernsthaftigkeit des Stoffes (der ja keineswegs gealtert ist) – wirken immer noch stark.

    Deine Kombination des Themas mit den Spielen dieser Zeit und der verbundenen Reflexion ist hochinteressant und ich freue mich über die Vorstellung gleich mehrerer Titel, die ich bisher nicht kannte. Eine wundervolle Reise. Dafür ein ganz großes Dankeschön von mir!

    Tobi
  3. Avatar von Tobi

    Lieber Nele, vielen Dank für deinen Beitrag! Ich muss gestehen, dass ich weiss gar nicht so recht, was ich darauf kommentieren kann, möchte deinen Mammutbeitrag aber nicht unkommentiert lassen. Du hast da ein für mich recht schweres Thema aufgegriffen. The Day after habe ich damals vermutlich viel zu früh gesehen, denn ich erinnere mich, dass ich zutiefst schockiert von einigen Szenen war. Zu einer gewissen Zeit, die du auch beschreibst, war das Thema der nuklearen Bedrohung sehr gegenwärtig. Auch ich bin mit den immerwährenden politischen Spannungen aufgewachsen. Auch wenn meine Spiele etwas anders waren, erinnere ich mich doch an ein N.Y. Warriors (der Shooter mit der viel zu lauten Musik), in dem man die bösen Buben ebenfalls an der Zündung einer Nuklearbombe hindern musste. Ging das schief, folgte eine Game Over Sequenz, in der New York unter einem Atompilz verschwand. Und auch heute, knapp 30 Jahre später ist das Thema leider alles andere als vom Tisch.
    Dass die Problematik oft in Spielen verwendet wurde, zeigt vermutlich auch den Zeitgeist in der Spieleentwicklung. Heute sieht man (wieder) vermehrt Spiele, die das Thema Terrorismus behandeln. So kommt es mir jedenfalls von meiner Position aus vor.
    In deinem Absatz, dass Videospiele gerne instrumentalisiert werden, kam mir auch der Gedanke an „America’s Army“, welches kurz nach der Jahrtausendwende als Werbeplattform für die US Army auf dem PC erschien. Ein weiterer, wichtiger Hintergrund des Spiels war dieser hier:

    Die US-Armee beabsichtigt junge, intelligente Menschen anzuwerben, die der modernen Kriegsführung gewachsen sind und die nötige Reaktionsschnelligkeit, vernetztes Denken und Technikaffinität mitbringen. Die erfolgreichsten Spieler des Spiels werden per E-Mail von Rekrutierungsangestellten des Heeres angeschrieben. (Wiki)

    Danke für deinen interessanten Artikel, Nele, der zeigt, wie stark Politik und Videospiele miteinander verknüpft sein können.

    André Eymann